Die algorithmische Revolution, ZKM Karlsruhe, Katalog



Black book cover with organically water-like structures

Die algorithmische Revolution, Zur Geschichte der interaktiven Kunst, La Rivoluzione Algoritmica

ZKM | Center for Art and Media
Exhibition brochure, 32 pages
2004
Deutsch
Dominika Szope, Peter Weibel, Margit Rosen, Sabine Himmelsbach

zkm.de/publikation/die-algorithmische-revolutionExhibition

Normalerweise liegt eine Revolution vor uns und kündigt sich mit »Getöse« an. Die Algorithmische Revolution dagegen liegt bereits hinter uns und nur wenige haben sie bemerkt - umso wirkungsvoller ist sie gewesen. Die Algorithmische Revolution begann um 1930 in der Wissenschaft, um 1960 in der Kunst. Inzwischen gibt es kaum noch einen Bereich unseres gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, der nicht von Algorithmen durchdrungen ist: Technik, Transport, Haushalt, Banken, Wirtschaft, Kommunikation, Architektur, Literatur, Kunst, Musik.

Unter einem Algorithmus versteht man eine Entscheidungsprozedur, eine Handlungsanweisung, die aus einer endlichen Menge von Regeln besteht, eine endliche Folge von eindeutig bestimmten Elementaranweisungen, die den Lösungsweg eines spezifischen Problems exakt und vollständig beschreiben. Der wohl bekannteste Einsatz von Algorithmen ist deren Umsetzung in der Computerprogrammierung. Ein Programm ist ein Algorithmus, der in einer Sprache formuliert ist, welche die Abarbeitung durch einen Computer ermöglicht. Jedes Computerprogramm (eine höhere Maschinensprache) ist also ein Algorithmus. Der Mensch hat die Abarbeitung von Erzeugungs- und Entscheidungsverfahren, z.B. tage- und stundenlanges Rechnen, in eine Maschine, die Rechenmaschine, ausgelagert. Parallel zur Entwicklung der Rechenmaschinen wurden daher auch immer präzisere Programmierungen notwendig. In den letzten Jahrzehnten sind Algorithmen vor allem in der Informatik, der Komplexitäts- und der Berechenbarkeitstheorie zu einem zentralen Thema geworden. In Form von Computerprogrammen und elektronischen Schaltkreisen steuern Algorithmen Computer. Der erste für eine mechanische Rechenmaschine konzipierte Algorithmus (für die Berechnung von Bernoulli-Zahlen) wurde 1842-1843 von Ada Lovelace in ihren Notizen zu Charles Babbages Analytical Engine (1833) niedergeschrieben. Weil jedoch Babbage jene Analytical Engine nicht vollenden konnte, wurde Lovelaces Algorithmus nie darauf implementiert.



Die mangelnde mathematische Genauigkeit in der gängigen Definition eines Algorithmus störte viele Mathematiker und Logiker des 19. und 20. Jahrhunderts. A.A. Markow schuf 1906 eine generelle Theorie stochastischer Prozesse bzw. Zufallsprozesse durch seine so genannten Markow-Ketten, die 1936 von A. Kolmogorow generalisiert wurden. Diese repräsentieren das mathematische Modell eines Prozesses ohne Gedächtnis, der ein physikalisches System beschreibt, wenn die Wahrscheinlichkeit des Übergangs in einen anderen Zustand nur abhängig ist vom Zustand des Systems zu einem gegebenen Zeitpunkt und nicht von der vorangehenden Geschichte dieses Prozesses. Die Übergangswahrscheinlichkeit für den Zustand zum Zeitpunkt t+1 ist nur abhängig vom Zustand zum Zeitpunkt t. Markow-Ketten erlauben das Studium von Sequenzen wechselseitig abhängiger Variablen nach Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, sind also Sequenzen von Zufallsvariablen in denen die künftige Variable abhängig ist von der gegenwärtigen Variablen aber unabhängig vom Zustand ihrer Vorgänger.
Diese Theorie stochastischer Prozesse konnte Ende der 1950er und Anfang der1960er Jahre auch erfolgreich auf die stochastische Erzeugung von Poesie und Musik, also auf Zufallsmusik und Zufallstexte angewendet werden. Der Begriff des algorithmischen Zufalls wurde als ultimative Definition des Zufalls akzeptiert und führte durch Kolmogorow, Chaitin und Solomonow zur Begründung einer Algorithmischen Informationstheorie. Schon um 1930 wurde der intuitive Begriff der Berechenbarkeit bzw. des Algorithmus mathematisch präzisiert. Die Arbeiten von Kurt Gödel, Alonzo Church, Stephan Kleene, Emil L. Post, Jacques Herbrand, Alan Turing haben gezeigt, dass alle formalen Fassungen des Begriffs der Berechenbarkeit gleichwertig sind und als Präzisierung des Begriffs Algorithmus angesehen werden können. Algorithmen sind also älter als Computer, obwohl ihr bekanntestes Einsatzgebiet in den letzten 70 Jahren die Umsetzung in der Computerprogrammierung ist. Die Computer dienen der Abarbeitung von immer komplexeren Algorithmen. Jedes Problem, das programmierbar ist, ist mit jeder heutigen Programmiersprache algorithmisch lösbar. Eine der vermutlich bekanntesten Problemlösungen ist das1936 von Alan Turing (1912-1954) entwickelte Konzept der Turing-Maschine, die aus einem unendlich langen Speicherband, einem Schaltwerk und einem programmgesteuerten Lese- und Schreibkopf bestehend, sämtliche mathematischen Grundfunktionen simulieren kann, und darauf aufbauend wiederum alle restlichen vorhandenen mathematischen Funktionen erzeugen kann. Ein Computer kann also als eine Implementierung der Turing-Maschine angesehen werden. Mit Nullen und Einsen operierend ist er in der Lage, die komplexesten Dinge zu berechnen.

Die Ausstellung Die Algorithmische Revolution stellt unter dem Zeichen der Handlungsanweisung und des Algorithmus eine Klammer her zwischen diversen Kunstbewegungen wie sie bisher nicht wahrgenommen wurde. Op-Art und kinetische Kunst haben Kunstwerke hervorgebracht, die entweder von der Bewegung des Betrachters abhängig sind oder vom Betrachter in Bewegung versetzt werden müssen, um in Erscheinung zu treten. Mit dieser Beobachterabhängigkeit haben sie die Interaktivität der computergestützten Installationen vorweggenommen. Dies ist auch rein formal durch die visuelle Ähnlichkeit von Computergrafik und optischer Kunst ablesbar. Die Handlungsanweisungen von Fluxus, in Buchstaben geschrieben und an ein Publikum adressiert, antizipieren und parallelisieren die Anweisungen, die an Maschinen adressiert und in Ziffern geschrieben sind, die so genannten Algorithmen. Die Ausstellung gibt zum ersten Mal einen Überblick über die Herrschaft der Algorithmen als Erzeugermechanismus in Literatur, Musik, Architektur und Kunst, von den Anfängen in den 1960er Jahren bis zur Software-Art. Sie ermöglicht einen neuen Einblick in eine neue Entwicklung der Kunst.

ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe

Kuratiert von
Peter Weibel, Dominika Szope, Margit Rosen, Sabine Himmelsbach

Künstler*innen (154)
Marc Adrian, Yaacov Agam, Getulio Alviani, Giovanni Anceschi, Kovac Architecture, Mario Ballocco, Thomas Bayrle, James Beauchamp, Giselle Beiguelman, Tom Betts, Alberto Biasi, Claus Böhmler, Ecke Bonk, Davide Boriani, George Brecht, Bazon Brock, Ludger Brümmer, Herbert Brün, Klaus Burkhardt, John Cage, Jim Campbell, Bruno Cohen, Gianni Colombo, Shane Cooper, Toni Costa, Luc Courchesne, Charles A. Csuri, Frank den Oudsten, Gabriele Devecchi, Hans H. Diebner, Götz Dipper, Ralph du Carrois, Marcel Duchamp, Jonathan Feinberg, Frank Fietzek, Robert Filliou, Henry Flynt, Herbert W. Franke, Masaki Fujihata, Kiyoshi Furukawa, Karl Gerstner, Walter Giers, Joe Gilmore, Hermann Goepfert, Richard Hamilton, Leon D. Harmon, Agnes Hegedüs, Heinrich Heidersberger, Maurice Henry, Lynn Hershman Leeson, Lejaren Hiller, Perry Hoberman, Markus Huemer, Jochem Hüskes, Alice Hutchins, Norbert Huwer, Boris Jakubaschk, Joe Jones, Utz Kapmann, Thomas Keller, Friedrich Kiesler, Orhan Kipcak, Wolfgang Kiwus, Kenneth C. Knowlton, Kenneth C. Knowlton, Kenneth C. Knowlton, Kenneth C. Knowlton, Rem Koolhaas, Alison Kowles, Michael Krause, Seymour Krim, Marc Lee, Golan Levin, Golan Levin, David Link, Rafael Lozano-Hemmer, Boris Lurie, Greg Lynn, Jackson Mac Low, George Maciunas, George Maciunas, George Maciunas, Enzo Mari, Manfredo Massironi, Max Mathews, Jonas Mekas, Laurent Mignonneau, Manfred Mohr, Franz Mon, François Morellet, Leonardo Mosso, Wolfgang Münch, Bruno Munari, Frieder Nake, Georg Nees, A. Michael Noll, Ralf Nuhn, John Pierce, Sigmar Polke, Chandrasekhar Ramakrishnan, J. K. Randall, Casey Reas, Vjenceslav Richter, Bridget Riley, Arthur Roberts, David Rokeby, Dieter Roth, Gerhard Rühm, Takako Saito, Takako Saito, Ralph Salm, Charles Sandison, Samson Dietrich Sauerbier, Michael Saup, Christian Scherr, Friedemann Schindler, Peter Schmidt, Tomas Schmit, Lillian F. Schwartz, Jill Scott, Joshua Selman, Jeffrey Shaw, R. N. Shepard, Mieko Shiomi, Charlotte Sommer-Landgraf, Christa Sommerer, Jesús Rafael Soto, Armin Steinke, Gerald Strang, Paul Talman, André Thomkins, Edward Thorden, Jean Tinguely, Endre Tót, Stan VanDerBeek, Grazia Varisco, Victor Vasarely, Woody Vasulka, Roman Verostko, Peter Vogel, Gerhard von Graevenitz, Wolf Vostell, Peter Walter, Martin Wattenberg, Robert Watts, Peter Weibel, Michael Weisser, Stefan Wewerka, Emmett Williams, Maciej Wisniewski, Shelly Wynecoop, La Monte Young, Edward E. Zajac, Konrad Zuse


Ausgestellt


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