Juristische Beurteilung von Kunstprojekten (Projekt clone-it)

Von Dr. iur. Bruno Glaus, Uznach, 12.03.2002 / BG

Ausgangslage
Ausgangspunkt ist das Projekt clone-it und die darauf folgenden Proteste, weil Selbstdarstel-lung Einzelner in der Web-Welt zertrümmert, verstümmelt, verulkt, parodiert etc. wird.

Konflikt
Es kollidieren Interessen, Interesse an Selbstdarstellung, Interesse an Schutz von geistigem Eigentum, Interesse an Kunstdebatte und Provokation durch Kunst, Interesse an wissen-schaftlichen Erkenntnissen, Überlebensinteresse, Interesse an Schutz von Privatsphäre etc.

Rechtsgrundlagen allgemein
Interessenkollisionen sind letztlich Grundrechtskollisionen (zwischen Recht auf Menschen-würde, auf persönliche Freiheit, Schutz der Privatsphäre, auf aktive und passive Informati-onsfreiheit, Medienfreiheit, Kunstfreiheit, Eigentumsgarantie, Wirtschaftsfreiheit und Recht auf politische Betätigung). Es gilt im Privatrecht die (indirekte Drittwirkung der Grundrechte (Art. 35 BV) – auch im Bereich des Persönlichkeitsschutzes (vergl. dazu Tarkan Göksu, Drittwirkung der Grundrechte im Bereich des Persönlichkeitsschutzes, SJZ 98, 2002, S. 89ff.). Die Frage der Persönlichkeitsverletzung und der Widerrechtlichkeit der Persönlich-keitsverletzung ist auf dem Wege der verfassungskonformen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zu beantworten. Im Konfliktfall hat der Richter nach dem Verhältnismässig-keitsprinzip einen Interessensausgleich zu suchen und festzulegen.

Persönlichkeitsschutz und Grundrechte
Nicht alle Freiheitsrechte sind auch Aspekte der Persönlichkeit. Vom Persönlichkeitsschutz werden u.a. erfasst das Recht auf Menschenwürde (Art. 7 BV), das Grundrecht auf Leben und persönliche Freiheit (Art. 10 BV), der Schutz der Privatsphäre und die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Das Selbstdarstellungsrecht ist Teil der verfassungsmässig garantierten Per-sönlichen Freiheit, konkretisiert in Art. 28 ff. ZGB und im Datenschutzgesetz (Beilage), wel-ches ein Gesetz ist, dass jegliche Bearbeitung von personenbezogenen Informationen ein-schliesst (also nicht nur Datenbanken-Gesetz ist).

Die Frage der Widerrechtlichkeit
Nicht jede Persönlichkeitsverletzung ist auch widerrechtlich und mithin unzulässig. Vielmehr kann ein rechtfertigendes Moment die Widerrechtlichkeit der Verletzung aufheben, ist doch eine Persönlichkeitsverletzung nicht widerrechtlich, wenn sie wegen Einwilligung, Gesetzes-vorschrift oder Verfolgung höherwertiger Interessen gerechtfertigt ist (Art. 28 Abs. 2 ZGB, SJZ 98, 2002, S. 99). Der Verletzer beruft sich in diesem Fall auf höherwertige Interessen. Der Richter muss in dieser Kollisionssituation unter Berücksichtigung aller Besonderheiten des Einzelfalles einen Ausgleich zwischen den sich widerstreitenden Grundrechten finden.

Zulässigkeit der Wiedergabe von widerrechtlichen Äusserungen durch die Presse
„Die Verbreitung einer widerrechtlichen Presseäusserung kann unter bestimmten Vorausset-zungen rechtmässig sein. Sie ist es zumindest dann, wenn die fremde Äusserung vollständig und wahrheitsgetreu dargestellt wird, als solche gekennzeichnet ist und nicht als Original-meldung des Verbreiters, gewissermassen die eigene Sicht aufzeigend, erscheint (erkennba-re Distanzierung) und die Kenntnis davon für den Leser von Wert (Informationsinteresse) ist“ (medialex 1996, S. 41ff. und Christoph Born, Wann haften Medienschaffende für die Wieder-gabe widerrechtlicher Äusserungen Dritter, in medialex 2001, S. 15).

Analoge Anwendung der Grundsätze für Kunstschaffende
Ein Eingriff in Persönlichkeitsrechte durch Kunstschaffende kann unter bestimmten Voraus-setzungen rechtmässig und somit nicht widerrechtlich sein. Grundvoraussetzung ist ein ü-berwiegendes Informations- oder Kunst- oder Wissenschaftsinteresse. Der Eingriff sollte so weit als möglich erkennbar sein oder jedenfalls im Konzept als begrenzter „Laborversuch“ deklariert werden. Zweck kann ja beispielsweise eine Untersuchung der durch ein Projekt ausgelösten Proteste sein (vergleichbar den Blind- und Doppelblindversuchen bei Medika-menten). Meist wird ein – gewöhnlicherweise widerrechtlicher – Eingriff, nur für eine be-schränkte Zeit durch ein überwiegendes Kunstinteresse gerechtfertigt werden können (z.B. Aktionskunst, Einsperren eines Tieres, Belästigung auf der Strasse durch Theatermacher etc.). Die zum Zweck eingesetzten Mittel müssen notwendig, verhältnismässig und zumutbar sein (vergl. dazu die Datenschutzgrundsätze).

Aufwertung der Kunstfreiheit durch neue BV
Die ausdrückliche Erwähnung der Kunstfreiheit in der Bundesverfassung wird dazu führen, dass diese Freiheit öfters als früher zur Rechtfertigung von Urheber- oder Persönlichkeitsver-letzungen herangezogen wird (Jacques de Werra, Liberté de l’art et droit d’auteur, medialex 2001, S. 143ff.). Nicht nur werden die Privilegien im Urheberrecht extensiver ausgelegt wer-den – so beispielsweise das Zitatrecht, das Parodieprivileg, das Katalog-Privileg – es wird das Interesse an eine Kunstdebatte bzw. künstlerischen Aussage ganz generell in die Waagschale zu werfen sein. Dieser Interessenausgleich war bisanhin jedoch nur am Rande Gegenstand von juristischen und kulturpolitischen Debatten.

Kulturverständnis beeinflusst rechtliche Beurteilung
Die Reaktionen auf clone-it haben gezeigt: Die rechtliche Beurteilung hängt auch vom Kunst- und Kulturverständnis der Betroffenen und Beurteilenden ab. Das Projekt wurde als Ausfluss eines Altachtundsechsziger Kulturverständnisses qualifiziert. Wer die Auffassung teilt, Kunst und Politik hätten etwas miteinander zu tun, kommt zu andern Schlüssen. In der Kunstge-schichte finden sich zahlreiche Belege, dass der Aufstand gegen die herrschende Macht, die Revolte, das Negative ein Akt des Kreativen ist, vielleicht sogar eine Grundlage desselben. Thomas Mann hat wie Egon Erwin Kisch geschrieben, Kunst sei „Opposition“, Carl Andre hat Kunst als „politische Waffe“ bezeichnet, ein anderer Kunst „als Modell des Trotzdem-Weitermachens“ (Peter Weiss in Aesthetik des Widerstands), wer nicht den Mut hat, Formen zu zertrümmern, um das Leben zu befreien, ist nicht kultiviert (Antonin Artaud, zit. in: 1460 Antworten auf die Frage: Was ist Kunst?, Dumont Buchverlag, Köln 2000, S. 131 ff.).