Kurzreferat von Bettina Spoerri

bei der deutschsprachigen Premiere von MEHER UND WENIGER in Zürich

Ein Haiku von Markus Kirchhofer lautet so:
welttag des buches
durch raum und zeit reisen mit
buchstaben im kopf

Ich liebe das Reisen durch Raum und Zeit, ich wollte schon immer fliegen können, nicht nur mit den Gedanken. Die Vögel beneide ich, wie sie über uns kreisen können, sich emporheben, im Gleitflug schweben und sich in der Luft fallen lassen können. Fliegen wie die Vögel: ein Menschheitstraum. Und die Vögel – ohne sie gäbe es einen riesigen Teil grosser Literatur nicht.

Das Symbol der Taube, die schon Noah in der Arche nach der Sintflut den hoffnungsvollen ersten Zweig, der von Festland kündet, bringt.

Eines der Lieblingsgedicht meiner Mutter war «Die Kraniche» von Bertolt Brecht, es beginnt so:
„Sieh jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
Aus einem Leben in ein andres Leben“

Aber Dichtung und Traum dahingestellt – die Realität sieht so aus: Wir sollen weniger fliegen, unseren ökologischen Fussabdruck reduzieren, wenige Jahrzehnte, nachdem wir tatsächlich jeden Tag fliegen könnten. Die Flugtechniken, die wir Menschen entwickelt haben, sind indes so viel unbeholfener als diejenigen der Vögel – doch in der virtuellen Realität, in virtuellen Räumen erhalten wir immerhin ein Gefühl dafür, wie es wäre, so schwerelos und ohne grosse Maschine um unseren Körper herum, also annähernd wie ein Vogel fliegen zu können, zumindest in unserer Vorstellungskraft, in der Illusion, die unser Hirn dem Körper vorgaukelt. In Marc Lees und Markus Kirchhofers MEHR UND WENIGER können wir nicht nur durch eine Art virtuelle Wissens-Stadt fliegen; ich bin darin schon wie ein Raubvogel in die Strassenschluchten hinuntergestürzt und durch Wände geflogen. Mir ist dabei auch schwindlig geworden – ein Gefühl, wie wenn sich die Na’vis im 3D-Film Avatar von den schwebenden Halleluja-Bergen auf den Rücken der drachenartigen Banshees in halsbrecherischer Weise in die Tiefe stürzen. Bei Peter Pan lernen es die Kinder einfacher – einfach ein wenig Feenstaub gestreut, und schon fliegen sie los ins Nimmerland, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Meine Koordination im Virtuellen, meine Beherrschung der Navigationsgeräte lässt allerdings noch sehr zu wünschen übrig, immer wieder bin ich unabsichtlich im weissen Off-Himmel gelandet, habe holprige Purzelbäume geschlagen, mich im Kreis gedreht, bin Kopf gestanden, und der Text ist mir dabei um die Ohren geflogen. In MORE AND LESS bin ich aber die Letzte, die fliegen lernen kann, überall begegne ich den Todesanzeigen von so vielen Vogelarten, dass ich staune, wie viele Arten da überhaupt existieren und existiert haben, zugleich entsetzt das Ausmass der Zerstörung. Doch es gibt keinen Ausweg, keine Zuflucht. Erinnerung an das Gefühl, als ich im Stelenfeld in Berlin unterwegs war. Kein Ausweg, keine Zuflucht mehr. Wie viele tausende Vögel sterben in den Rotorblättern der Windkraftanlagen: kein Kohlendioxid, aber dennoch für Vögel tödlich. Wie gerne wären wir unschuldig. Kunst und Literatur erinnert uns daran.