von Yvonne Volkart
«Denn man reist doch wahrlich nicht, um auf jeder Station einerlei zu sehen und zu hören.»
W. v. Goethe, 1792
«O God! I could be bounded in a nutshell, and count myself a King of infinite space…»
Hamlet, II, 2[1]
Angetan mit einem Head Mounted Display, stehe ich in einem abgezirkelten Raum und steuere mich durch Herumlaufen und Kopfnicken durch Bern. Ich habe diese Stadt anhand einer Weltkarte auf einem Display ausgewählt. Nun bewege ich mich durch Häuserschluchten, zoome in Fassaden rein und höre den Sound dieser Stadt: Zugansagen, Gelächter, Klingeln. Dann wähle ich Perm, Ulan Ude, Seoul… Was ist besonders an diesen Städten? Sie sind trotz unterschiedlicher Sprach- und Soundcollagen irgendwie alle gleich: Aneinander gereihte, verschieden hohe geometrische Kuben, auf deren Fassaden Textmessages, Fotos und Anzeigen zu sehen sind. Times Square der Social Media, sauber und chaotisch, transparent und opak zugleich. Während in Bern Dutzende ähnlich aussehender Pizzas, in allen Sprachen kommentiert, auf den Fassaden aufscheinen, hat sich in Ulan Ude immer nur dasselbe gutaussehende Frauengesicht vervielfacht. Und während in Seoul, Zürich oder London die Massen an Posts ein paar Sekunden oder Minuten alt sind, überdauerten die paar wenigen in Novosibirsk Tage und Wochen.
Die Messages können kaum gelesen werden, da sie schnell wieder verschwinden, spiegelverkehrt oder schlecht platziert erscheinen. Einige Äusserungen schieben sich momenthaft ins Verstehen, doch sie bleiben so schattenhaft und gesichtslos, wie all die «Individuen», deren persönliche Vorlieben einen in dieser Masse schlicht nicht interessieren: Überforderung statt Voyeurismus. Kommt dazu, dass die jeweilige «Stadt-Öffentlichkeit» nichts sagt, nichts zu sagen hat. Trotz all den individuellen Äusserungen und Gesichtern bleiben die Menschen eine gesichtslose Masse, deren Inhalt sich nicht nur 10’000 Mal wiederholt, sondern die damit auch noch eine ganze Stadt vollpflastern, die Welt anfüllen, besetzen. Was bleibt, sind Patterns, Modulationen, Variationen.
Das Leben, ein Datencenter
Die interaktive netz- und telepräsente VR-Installation 10’000 Moving Cities – Same but Different greift user-generierten Content, wie News, Tweets, Bilder, Videos und Sound, aus den Social-Media-Netzwerken wie Instagram, Twitter und Freesound in Realzeit ab und rendert dies passend für die im Ausstellungsraum platzierten Kuben. Sie übersetzt Daten in das Modell einer gebauten Stadt und bringt somit die Cloud einer Stadt in den Realraum. Erfahrbar wird die atmosphärisch verdichtete Kumulation und Materialisation ortsspezifischer Live-Daten, das Sein einer Stadt als Infosphäre, als endlose Flut und chaotische Verdichtung immateriell scheinender, global vernetzter Datenströme – und die Einsamkeit einer suchenden, tastenden Userin, verloren in der Kommunikationsmaschine der Anderen.
Marc Lee hat verschiedentlich den Verlust von Vielfalt in der Welt durch die Globalisierung hervorgehoben. Städte werden heute nicht mehr mit lokalen Materialien, sondern mit Glas, Stahl und Beton gebaut. Er interpretiert diese homogenisierten Städte im Sinne Marc Augés als «’Nicht-Orte’, die quasi ohne wirkliche lokale Identität überall auf der Welt sein könnten, wie Autobahnen, Hotelzimmer, Flughäfen oder Einkaufszentren.»[2] Seine clean wirkende 3D-Installation, welche Open-Source-Software wie Blender und Unreal einsetzt, verstärkt diesen Effekt. Sie macht auch deutlich, wie stark die von uns scheinbar als «Werkzeuge» verwendeten Soft- und Hardwaretechnologien die dominante Wahrnehmung der Welt hervorbringen: Architekturen, die uns nicht nur wie ein gerendertes Stück Software erscheinen, weil wir, permanent online, ständig solche Bilder sehen und sie reproduzierend «wiedererkennen», sondern die tatsächlich auch aufgrund gerenderter Modelle gebaut werden. Natürlich ist die unentwirrbare Verschränkung von Realität und ihrem Abbild oder Vorbild nichts Neues. Immer schon haben sich, wie die Filmtheoretikerin Kaja Silverman schon vor der Heraufkunft von Social Media festhielt, Menschen Bilder gemacht.[3] Neu ist, dass Bilder, oder genauer, das andauernde, unmittelbare Medialisieren, Digitalisieren, Teilen und Liken von Welt uns in einer nie dagewesenen Weise einbindet. So wie wir uns – freiwillig – in das dominante Zeit- und Blickregime einfügen, werden wir subjektiviert – und normalisiert.
Die in 10’000 Moving Cities offenbarte Homogenisierung von Welt, und das heisst Reduktion von Welthaltigkeit, lese ich als ein Symptom aktueller Biopolitik. Diese stützt sich, wie Deleuze in Anschluss an Foucault gezeigt hat, weniger auf Repression und Auslöschung des Individuums als vielmehr auf maschinelle Kontrolle und «Dividuation», dem Austausch der Vorstellung vom Individuum durch codierte und somit decodierbare Materie.[4] Dass das dividuelle Sein mit zunehmender Hyperindividualisierung gepaart ist, ist nur ein vordergründiger Widerspruch. Durch den Besitz grosser Datenmengen, die erst durch den Besitz grosser Rechnerleistungen möglich werden, kann «Individualität» auf eine neue, algorithmische Weise gesteuert und in je spezifischen Modalitäten und Variationen «dividuiert» werden.
Im Folgenden möchte ich zeigen, dass Marc Lees virtuell erfahrbaren Modellstädte nicht nur die reale, user-generierte Infosphäre einer je spezifischen Stadt abbilden. Sie werfen auch nicht nur die Frage auf, was «Stadt» ist und wie damit verbunden, gemeinschaftliches Leben funktioniert, basierend auf der Idee der Agora, einer antagonistischen, demokratischen Öffentlichkeit. Ich meinte vielmehr, dass Marc Lees «Städte» darüber hinaus die unsichtbare Vertikalität machtvollen Data Minings sowie die geopolitische Megastruktur kapitalistischer Computertechnologien re-inszenieren. Anders gesagt: Die geometrischen Stadt-Modelle visualisieren und verräumlichen die Layers und Grids von Datenkraken und Computerinfrastrukturen, auf denen unsere Welt heute baut. Deswegen handelt es sich bei diesen 10’000 Städten letztlich immer nur um eine, nämlich die paradigmatische, verkabelt und verdrahtete Architektur der Infosphäre. Sie ist ein Symbol unserer Gesellschaft als Datencenter. In diesem sind Daten in planetarischen Ausmassen zu Verwaltern unseres Seins geworden, während das Individuum zum Produzenten und Lieferanten einer Ressource dividuiert ist, mit der sich viel Geld verdienen lässt.
Vertikale Datenarchitektur
Gemäss dem Medientheoretiker Felix Stalder ist es eine «Eigenart digitaler Technologie, dass jede Handlung, die wir durch sie und mit ihr ausführen, gleichzeitig auf zwei Ebenen stattfindet, auf der menschenlesbaren Ebene der Kommunikation und der maschinenlesbaren Ebene der Daten.»[5] Kommunikation beinhalte dadurch, dass sie auf Austausch und Offenheit ausgerichtet sei, ein horizontales Moment. Daten hingegen, also jene Informationen, die bei jeder Kommunikation anfallen – wer spricht mit wem, wo haltet sie sich auf, wie lange dauert das Gespräch, was ist sein Inhalt etc. – seien hingegen «ihrem Wesen nach vertikal. Sie entstehen auf einer anderen Ebene als die Ereignisse, die sie hervorbringen.» (ebd.) In der ersten Phase des Internet seien die Aspekte der Kommunikation, und damit verbunden Momente wie Partizipation und Kollektivität, ausgebaut worden. In der zweiten Phase dominiere «das Datencenter – eine Blackbox mit industriellen Dimensionen, kapitalintensiv, komplex und opak.» (ebd.)
In der Blackbox verschlossen bleibt, dass die Auswertung von Daten bedeutet, Muster erkennbar zu machen. Data Mining «is not simply a technical operation», schreibt die Medienwissenschaftlerin und Künstlerin Anna Munster. «It is a technique that manages data perception, by making data into the perceptible – data recurring as particular formations for us to see something in the already seen.»[6] Munster verweist auf die dem Data Mining immanente Dynamik, die einerseits Nicht-Wahrgenommenes (Daten) wahrnehmbar macht (Muster) und diesen Prozess gleichzeitig wieder unwahrnehmbar werden lässt (Blackbox).
Muster führen zu Prognosen, die als mathematisch kalkulierte Vorwegnahmen von Zukunft sowohl die Gegenwart als auch mögliche Zukunft zerstören. Diese Eingriffe in die Subjektivierung qua «Bevölkerungsmanagement», das über Anreize statt Unterdrückung funktioniert, lassen sich unter dem Stichwort Biomacht fassen.[7] Gemeint ist damit die aufgrund von statistischen Analysen ermöglichte Regulierung und Produktion von Dividuen, ihren Wahrnehmungen und Wünschen. «Die Daten bieten die Grundlage dafür, die Umgebung, in der Menschen handeln, vorzustrukturieren, bevor sie handeln. Dadurch wird der Eindruck der individuellen Freiheit erhalten, obwohl die Freiheit nur noch darin besteht, aus Optionen auszuwählen, die ein anderer aus eigennützigen Motiven bereitgestellt hat.»[8] Solange also Scheinoptionen gegeben werden, die die Entscheidungs-Kompetenz des Consumer-Subjekts befriedigen, stört sich keiner am restringierten Kontrollsystem.
Auch Benjamn Bratton spricht von einer «vertikalen Megastruktur», die durch die zeitgenössischen Computertechnologien gebildet werde, er nennt sie «The Stack» und beschreibt sechs verschiedene Schichten: Erde, Cloud, Stadt, Adresse, Interface und User_in.[9]
Mimetisieren und automatisieren
Das Display von 10’000 Moving Cities arbeitet mit oben genannten Freiheitsversprechen: (Fast) Alle Städte der Welt liegen vor mir ausgebreitet zur Verfügung. Einfach wählen, hinschauen, mich bewegen, und schon bin ich in einer anderen Stadt, die mit einer «anderen» Pizza lockt. Eine Grundstrategie der Installation ist zudem, dass sie mit Stereotypen arbeitet: Sie übersetzt ein Stereotyp in ein anderes: Die Gesamtheit «der Social Media» in die Totalität der gerenderten «Stadt». Dank dieser Übersetzung wirkt die Szenerie noch gestellter und modellhafter.
Marc Lees Strategie lautete schon immer, aus dem Innern der Maschinen – der Computer und ihrer Ökonomien – heraus zu agieren und mit den Mitteln der Kunst das zu tun, was die Maschinen tun. In diesem Fall heisst das unter anderem, Data Mining zu betreiben und die Muster bereitzustellen. So greift er die in den Social Media Netzwerken blossgelegten Daten ab und fügt sie zu einem architektonischen Pattern an bewegten Bildern. Dass es in 10’000 Moving Cities um die Mustererkennung geht, macht die Tatsache klar, dass man beispielsweise die Textmessages kaum lesen kann. Es geht um die grundlegende Struktur, um die Eigenschaft der Posts, Muster zu werden. Diese Muster beziehen sich letztlich nicht nur auf die Datentechnologien, sondern auch auf Reisemuster, Zeitmuster, Raummuster, Weltmuster: In möglichst wenig Zeit möglichst weit herumkommen und möglichst viel erleben – Lebensmuster, deren Optimierungstasks und Verkettungen wie die algorithmischen Feedbackloops einer Maschinenaktion anmuten.
Marc Lees Strategie des Mimetisierens und Automatisierens wird durch das High-Tech-VR-Equipment potenziert. Während die VR-Brille heutzutage ein alltägliches Consumerdevice geworden ist, das man mit dem Versprechen nach mehr Realität und Authentizität unter die Leute bringt, ist das projektspezifische Tracking-Interface mit relativ grossem Entwicklungsaufwand hergestellt worden. Mit der Entwicklung einer mobilen App [10], die es ermöglicht, das Projekt mittels eines Tablets oder Smartphones zu erkunden, verfolgt Marc Lee seine Strategie weiter: Jede und jeder kann nun auf seinem Individualgerät in die schöne neue Welt der virtuellen Städte eintauchen und deren «Unterschiede» erkunden. Einem jeden seinen kleinen Privathubschrauber.
Auch die mit 10’000 Moving Cities verwandte Online-Arbeit Airport Lounge (2018) offenbart das Musterhafte unseres «persönlichen» Bewegungsverhaltens, das wiederum den Bau von solchen homogenisierten Orten vorantreibt. Via Google-Earth fliegt man von Flughafen zu Flughafen, von der Fernsicht zur Nahsicht zoomend, von einem wie eine militarisierte Zone wirkenden Aussen zu einem Intimität suggerierenden Innen. Sobald man am Flughafen ist, blendet sich ein Instagram-Post ein: schattenhafte Figuren im Terminal, ein enges Hotelzimmer oder ein Glas Wein auf einem Tisch – stille Zeugen einer Reise in die Vorhersehbarkeit. Und in der angehaltenen Zeit, in denen das Bild verweilt, mich für einen Moment zu lange warten lässt, bis es wieder verschwindet und sich in das Kontinuum der Bilderflut einreiht , überfällt mich es mich: Welch ungeheuerliche Megastruktur an Ressourcen, Infrastrukturen und Treibhausgasen muss doch aktiviert werden, um ein Bild von einem Glas Wein auf einem Tisch zu machen.
Was bleibt, sind die maschinellen Verkettungen, das Strömen der Bilder, die Lust am Eintauchen in sie. Aber auch die Gefühle von Einsamkeit und Leere angesichts dieses Vernichtens von Welt. Wo bleibt die Gegenwart in dieser Live-Action meins Teilens und Geteilt-Werdens?[11] Was geschieht mit all den Sehnsüchten und Gefühlen, diesen Maschinenbefehlen und Feedbackloops? Wie könnten diese Kräfte anders gerichtet werden? Und was kann Kunst angesichts dieser, unserer grossen Verstrickung und Hilflosigkeit tun?
Vielleicht liegt die Antwort im Titel. Vielleicht meint 10’000 Moving Cities etwas Anderes als ich zu Beginn dieser Reise annahm. Vielleicht ist er ein Orakel und antwortet paradox: Da sind 10’000 Städte, da sind vertikale, horizontale und transversale Kräfte, die – wie im Movie Theater – uns, etwas, die Welt, 10’000 Mal bewegen oder auch nicht bewegen. Und es liegt an an uns 10’000, ein Kollektiv an Strömen, an Dividuen zu bauen, die etwas – jetzt – zu bewegen vermöchten.
Dank an Felipe Castelbianco für die Diskussion.
Published
The Internet of other people’s things KAIRUS ART+RESEARCH, Graz, AUSTRIA
Literaturliste
Bratton, Benjamin: The Black Stack, in: e-flux journal #53, March 2014/
Deleuze, Gilles: Postscript on the Societies of Control
Himmelsbach, Sabine / Mareis, Claudia (Hg.): Poetics and Politics of Data. Die Ambivalenz des Lebens in der Datengesellschaft. Basel: Christoph Merian Verlag 2015
Raunig, Gerald: Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Wien: transversal texts 2015
Silverman, Kaja: Dem Blickregime begegnen, in: Kravagna, Christian (Hrsg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 41-64
Simanowski, Roberto: Facebook-Gesellschaft, Berlin: Matthes & Seitz, 2016
Stalder, Felix: In der zweiten digitalen Phase, in: Le monde diplomatique, 14.2.2014
Footnotes
[1] Hamlet, Motto bei Jorge Luis Borges: The Aleph.
[2] Marc Lee: https://marclee.io/de/10-000-moving-cities-same-but-different-vr/
[3] Silverman, S. 41-42.
[4] Deleuze 1992/2002, S. Zum Dividuum als transversale Figuration siehe Raunig 2015. http://home.lu.lv/~ruben/Deleuze%20-%20Postscript%20On%20The%20Societies%20Of%20Control.pdf
[5] Stalder 2014, S. 1.
[6] Munster 2009, S. 3
[7] Munster 2009, S. 18.
[8] Stalder 2014, S. 2.
[9] Bratton 2014, S. 1.
[10] Marc Lee: https://marclee.io/de/same-but-different/
[11] Mit Bezug auf Agamben diskutiert Simanwoski 2016 das Verschwinden von Gegenwart und Zeitgenossenschaft durch das permanente Aufzeichnen und Dokumentieren in der Facebook-Gesellschaft.