Video-Tour, Halle 87 – City Halle – Haus Tista-Murk

Ortsspezifische Video-Tour

Die Video-Tour Halle 87 – City Halle – Haus Tista-Murk ist eine sinnliche Reise durch die Hochschulbibliothek in Winterthur. Dabei werden neue Blickwinkel und geschichtliche Perspektiven auf das Gebäude und deren Inhalt und Menschen projiziert.
Am Informationsschalter der Bibliothek der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften kann man ein Tablet mit Kopfhörer ausleihen. Anhand des vorgefertigten Videos wird man durch die Bibliothek geführt und begibt sich auf eine reale sowie virtuelle Reise. Da man sich am gleichen Ort befindet, wo das Filmmaterial gedreht wurde, verschmelzen Realität und Fiktion, sowie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Man befindet sich real in der Bibliothek und doch gleichzeitig auf einer Reise durch die Literatur- und Fabrikgeschichte.
Durch diese neue Art der Interaktion von Video und Realität kann man neue Perspektiven eröffnen und Themen vielschichtig, spannend und vor allem einprägsam erzählen.

5′ Auszug der 35-minütigen Video-Tour

Video-Tour, 35′ (Volle Länge)

Rede an der Vernissage der Video-Tour in der ZHAW HSB Winterthur
03.12.2015
Von Doris Gassert:
In dieser ortsgebundenen Video Tour, die für die Hochschulbibliothek entstanden ist, verschränken sich nun erstmals die zwei getrennten Arbeitswelten und die ansonsten über den Namen klar voneinander abgegrenzten Identitäten. Über das Gebäude, seine Geschichte und seinen Wandel legt sich somit auch eine klare künstlerische Intention – und eine sehr zeitgenössische Reflexion. Und es ist diese, die die Werke von Marc Lee stets auszeichnen.

„Wie entwickelt sich die digitale Welt weiter?“, fragt also die weibliche Stimme, die uns durch das Video und durch die Hochschulbibliothek führen wird. Es ist eine nachdenkliche Stimme. Ihre Aufgabe wird es sein, uns einerseits den Weg zu weisen, andererseits die Geschichten dieses Ortes immer auch in die grössere Perspektive zu setzen. „Unsere gesellschaftlichen Strukturen, Verhaltensweisen und Bedürfnisse werden bestimmt auch in Zukunft stark davon [d.h. von der digitalen Welt] geprägt sein. Braucht es noch Bibliotheken im Zeitalter des Internets?“ fragt sie.

Tatsächlich führt uns gerade die Videotour vor Augen, dass Informations- und Wissensvermittlung heute eben an ganz vielen, mitunter virtuellen Orten stattfindet – und über eine Vielzahl medialer Kanäle. Trotzdem sind die physischen Orte auch in einer zunehmend digitalen Welt – zumindest für unsere Generationen – nicht wegzudenken.

Denn viel tiefgründiger ist in diesem Wandel ist – und dies lässt uns der Videowalk eben ganz bewusst erleben – dass wir Orte und Menschen zunehmend über eine Überlappung oder Verschmelzung von virtuellen und realen Erfahrungsräumen begegnen, wir uns also gleichzeitig in on- und offline-Welten bewegen. Mit dem Smartphone gibt es keine strikte Trennung mehr, und lange schon wirkt sich dies auf die physischen Orte selbst aus und auf die Art und Weise, wie sich Menschen begegnen – mit weitreichenden Folgen für unsere gesamten Lebens- und zwischenmenschlichen Umgangsweisen. Denn diese erfahren im Digitalen tiefgreifende Veränderungen.

So wandelt sich das „Hier und jetzt“ zunehmend in eine Erfahrung, in der Ungleichzeitiges gleichzeitig und dynamisch aufeinandertrifft und sich durchmischt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, historische Fakten und persönliche Erinnerungen, unterschiedliche mediale Formate, Darstellungsformen und Blickperspektiven; reale und virtuelle Welten – das Video führt alle diese Komponenten vor – und synthetisiert sie zu einem sinnlichen Erlebnis. Doch nicht genug: sie zieht auch uns in diese Synthese mit ein. Denn erst in der Aufführung entfaltet die Tour ihre volle Wirkung, d.h. erst dann, wenn wir uns auf das Video einlassen – hier, vor Ort, in diesem Gebäude.

Über montierte Aufnahmen werden wir sodann vom Erfahrungsraum der heutigen Hochschulbibliothek in andere, vergangene Zeiten dieses ehemaligen Sulzer Gebäude 87 zurückversetzt, die für uns über Geräusche, Fotografien, und Erzählungen von Jürg Hablützel erlebbar werden. Die Tour führt uns somit nicht nur durch den Ort, sondern durch seinen historischen Wandel – die Aura des Vergangenen wird als gegenwärtige Präsenz spürbar, die in jedem Raum und jeder Ecke dieser Hallen schlummert.

Die eingeschnittenen filmischen Sequenzen von Germaine Dulacs Themes et Variations aus den 1920er Jahren und ihre Wiederaufnahme in den zeitgenössischen tänzerischen Rauminterpretationen, welche die Tour aufbrechen, zeigen nicht zuletzt, dass Erfahrung und Wissen sich eben nicht nur in Büchern und Erzählungen manifestiert, sondern sich auch über räumliche Anordnungen, spezifische Ausdrucksformen, über Gesten und Blicke transportieren. Alle dies nährt immer auch unsere Reflexionen, Projektionen und Zukunftsentwürfe – YOUR DREAM, YOUR PLACE. Die einzige Konstante bildet dabei der Wandel – und was könnte diesen besser spürbar, erleb- und erfahrbar machen, als die Kunst?

Gesprochener Text im Video
Erdgeschoss
Ich sitze hier gerade mit Ihnen in der Z H A W Hochschulbibliothek in Winterthur.
Die technischen Stahlskelette, die gespenstische Leere, die Gerüche und die gedämpfte Akustik hinterließen einen so starken sinnlichen Eindruck, dass ich beim Durchqueren plötzlich das Gefühl hatte, mich nicht mehr in einem industriellen Gebäude zu befinden, sondern in einer Kathedrale, schrieb Hermann-Josef Krug über das Sulzer-Areal hier in Winterthur.
Dieses Video ist ein Experiment.
Drehen sie das Gerät nach oben, halb rechts. Diese alte Krananlage aus dem Jahr 1930 ist gleich alt wie das Gebäude selbst, erbaut vom Architekt Lebrecht Völki für die Firma Sulzer. Diese Stahlskelett-Konstruktion – eingehüllt mit Glas und roten Schindeln – setzte einen Markstein im Fabrikhallenbau und wurde zu einem Monument der Moderne.

Welche Lasten wurden mit diesem Kran verschoben, hochgehoben und herabgelassen? Hier war die Rohrschlosserei und gigantische Dieselmotoren wurden zusammengebaut welche bis zu 50 Prozent des Weltmarkts eroberten.
Die ausgeräumte Halle erinnert mich mit ihren gewaltigen Stahlträgern und Abluftrohren, mit ihren verschiedenen Arbeitsebenen und hohen Räumen an eine riesige Theaterbühne und ich stelle mir die Frage, welche Aufgaben sie hatte und welche künftigen Aufführungen sie erhalten werde.

Sehen sie die Frau im roten Kleid? Stehen wir auf. Folgen wir ihr.
Aktuelle Zeitschriften und Magazine – Sie konstruieren eine Wirklichkeit, helfen unsere Welt zu verstehen. Ein Sinnbild dafür, dass der Wandel die einzige Konstante ist.

Beachten sie die Treppe rechts. Da gehen wir nachher hoch.
Bücher der Sprachwissenschaften.
Kann es sein, dass Menschen in ferner Zukunft aus nostalgischen Gründen in die Bibliothek gehen werden, nur um Papierbücher zu betasten? Wenn ein Buch elektronisch verfügbar ist, wird dieses und nicht das Papierbuch von der Hochschulbibliothek erworben. Wie entwickelt sich die digitale Welt weiter? Unsere gesellschaftlichen Strukturen, Verhaltensweisen und Bedürfnisse werden bestimmt auch in Zukunft stark davon geprägt sein.
Braucht es noch Bibliotheken im Zeitalter des Internets?
Für Aufgaben wie die Informations- und Wissensvermittlung, sowie als Ort des Lernens und Begegnens sind Bibliotheken nicht wegzudenken. So wurden hier auf rund 10‘000 Quadratmetern Nutzfläche auch 700 Lernplätze eingerichtet.
Gehen wir zur Treppe und dann vorsichtig hoch.

Zwischengeschoss 1
Drehen wir uns nach links und folgen Herrn Hablützel

Beobachten wir die Menschen, wie sie dasitzen, sich verhalten. Es ist intim Menschen zu beobachten. Man kann sehen wie sie sich bewegen, ihre Gesten und Beziehungen. Man kann sehen wie sie sich fühlen.
Halle 87 – City Halle – Haus Tista-Murk – alles ist in konstanter Änderung.
Einst stand gross «SULZER» auf der Fassade der Halle 87, dann prangte in riesigen hellen Lettern das Logo «CITY HALLE» auf dem Fensterband gegen den Gleiskorridor. Die Fassade diente als Werbeträger. Geworben wurde für den Wandel mit dem Slogan «Your Dream – Your Place». So verpassten die Arealentwickler dem einst negativ besetzten Industrieort ein neues positives Image. Und nun zieren die weissen Buchstaben «ZHAW» die Fassade. Und mit dem Namen des Bündner Bibliothekars, Schriftstellers und Journalisten Tista-Murk soll das Image erneut gewandelt werden.

Nach rund 150 Jahren endete die Erfolgsgeschichte für Sulzer. Das eigene Industrieareal wurde für sie zum Entsorgungsproblem.
Das Büro P&B Partner Architekten AG hat nun die hochkomplexe Transformation dieser Halle in eine Hochschulbibliothek, vorbildlich und mit viel Verständnis für die Industriearchitektur gemeistert. Und ist ein Sinnbild für den Wandel Winterthurs von der Industriestadt zur Bildungsstadt.
Drehen sie den Bildschirm. Gehen wir zur gegenüberliegenden Seite.

Drehen wir uns. Gehen wir zur gegenüberliegenden Seite, wo sich die Bahngleise befinden. Von da aus wurden Fabrikate wie Schwermaschinen in alle Welt verfrachtet.
Gehen wir links vorsichtig die Treppe runter.
Und nun ganz nach hinten zum Foyer.
Und rechts zur Rückgabe.
Buch Rückgabe

Es werden immer intelligentere Robotermodelle entwickelt. Beispielsweise im Gesundheitssystem, in der Pflege und in der Bildung als Lehrroboter. Das Zeitalter des Zusammenarbeitens mit Robotern hat bei Sulzer früh begonnen. In den Werkmitteilungen von 1975 steht: Roboter seien weniger anspruchsvoll als Menschen und unempfindlich gegen Monotonie. Sie führen auch härtere Arbeiten aus als der Mensch, unbeeinflusst von Hitze und Kälte, Betriebsklima oder Launen.

Gehen wir nach hinten und rechts die Treppe hoch ins erste Obergeschoss. Ins erste Obergeschoss bedeutet in dieser Halle sechs Treppen hoch.

Obergeschoss 1
Setzen wir uns hier auf die Fensterbrüstung. Beobachten wir die Interpretationen.
Gehen wir rüber zur Wand.
Folgen wir der Frau ins erste Obergeschoss hinein.
Diese Räume erinnern mich an «Nicht-Orte», ein Buch von Marc Augé. Flughäfen, U-Bahnen, Starbucks Kaffees und Supermärkte. Orte des Ortlosen. Man ist nicht heimisch in ihnen. Sie bilden keine individuelle Identität. Die Übermoderne macht das Alte zu einem Spektakel eigener Art, so wie es mit allem Exotischen und allen lokalen Besonderheiten geschieht.
In diesem Bau jedoch erlebe ich das Alte und Neue als Synthese, als Integration, nicht als Vereinnahmung.
Gehen wir nun ins zweite Obergeschoss.

Obergeschoss 2
Drehen Sie das Gerät nach rechts. Gehen wir ganz nach hinten.
Setzen wir uns noch einmal. Lassen wir die Zeit rückwärts laufen, mit Sicht von da oben auf uns herunter.
Solche Abbildungen können uns faszinieren. Wir haben diese Bilder nicht real erlebt, und doch haben sie uns stark geprägt.
Mauern und Hallen, Strassen und Plätze dieser Stadt sind nicht einfach selbstverständliches Resultat technischer und unternehmerischer Planung. Ihre Geschichte ist verwoben mit der Geschichte von Menschen, mit Macht und Ohnmacht, Widerstand und Anpassung, Hoffnung und Enttäuschung.
Stehen wir wieder auf.
Gehen wir zurück ins Treppenhaus.
Wenn man eine Treppe hochgeht, muss man sie auch wieder heruntergehen. Alle wissen das ausser in der Wirtschaft.